Rechenschwäche (Dyskalkulie)
Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben werden seit Jahrzehnten intensiv erforscht und das Wissen um dieses Störungsbild kann insgesamt als sehr hoch eingeschätzt werden. Anders sieht es jedoch mit den ähnlich gearteten Schwächen im mathematischen Bereich aus. Warum das Rechnen bei manchen Kindern nicht gelingen will, wirft in der Wissenschaft noch viele Fragen auf. Das Störungsbild ist jedoch auf der ganzen Welt anzutreffen und wurde deswegen in einem internationalen Katalog (ICD 10) der Weltgesundheitsorganisation unter der Rubrik „Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten“ aufgenommen.
„Diese Störung beinhaltet eine umschriebene Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fähigkeiten.“ (ICD 10: F 81,2)
Meistens handelt es sich um ein Zusammenspiel aus mehreren Ursachen. So finden wir bei einer Dyskalkulie organisch-neurologische Ursachen, psychische, emotionale und soziale Gründe, und nicht zuletzt liegen auch didaktische Mängel vor. Bei den folgenden Beschreibungen sollte beachtet werden, dass eine Rechenstörung nicht immer nach einem gleichen Muster bei Kindern auftritt. Die im Folgenden beschriebenen Fehler können jedoch Hinweise auf das Störungsbild liefern.
- Zahl wird als „Position“ verstanden, d.h. das Kind denkt beispielsweise bei „sieben“ an den zweiten Finger seiner rechten Hand, da es gelernt hat, die Zahl mit den Fingern abzuzählen.
- Hartnäckiges Zählen statt Rechnen
- Fehler beim Abzählen, da beim Weiterzählen nicht mitgedacht wird und keine Plausibilitätskontrolle erfolgt
- Kein Größenbezug zu Einern, Zehnern, Hunderter... Es rechnet beim schriftlichen Rechnen scheinbar gedankenlos Einer und Zehner zusammen, vertauscht die Stellen.
- Keine Größenkontrolle in der Zahlenvorstellung. (Bsp. Welche Aussage ist richtig? Sind fünf Lehrer in einer Klasse viel - wenig oder normal)
- Kein Verständnis der Grundrechenarten - häufig allerdings tadelloses Auswendiglernen der Einmaleinsreihen. Meist völliges Versagen bei den Textaufgaben, da keine Logik in den Rechenarten erkannt wurde.
Eine Therapie im Rechnen ist komplex und basiert auf einem integrativen Ansatz. Folgende Anteile müssen in einer Therapie enthalten sein: Ein allgemeines Wahrnehmungstraining, die allgemeine Grundschulmathematik, die Bearbeitung der emotionalen Schwierigkeiten sowie Verhaltensauffälligen des Kindes und - ganz besonders wichtig - die spezifischen Denkweisen und Strategien eines rechenschwachen Kindes. Eine Dyskalkulie-Therapie übersteigt damit die Möglichkeiten einer normalen Nachhilfe ebenso wie rein psychologische und psychotherapeutische Verfahren. In jedem Fall ist es unerlässlich, mit Eltern und Schule zusammenzuarbeiten, damit weitere unproduktive Lernstrategien aufgegeben werden. Die Therapie muss bei rechenschwachen Kindern individuell erfolgen, da jedes Kind seine eigene „Logik“ beim Rechnen entwickelt hat, die nicht durch eine allgemeingültige Erklärung korrigiert werden kann.
Zur Therapie von Rechenstörungen gehört auch das Training kognitiver Fähigkeiten, auf denen sich das Zahlenverständnis sowie Rechenoperationen aufbauen. Durch entsprechendes Anschauungsmaterial ist es zunächst oft erforderlich, dass Kinder Zahlen einem Mengenbegriff zuzuordnen lernen. Dabei sind auch unsere Sinne wie Sehen und Hören wichtig sowie Fähigkeiten des Abstrahierens. Konzentration und ein gutes Gedächtnis sind ebenfalls zu schulen, denn das Kind muss beim Rechnen oft Zwischenschritte im Kopf behalten, damit es zu einem Endergebnis kommen kann.
Eine gute Therapie setzt an den Phasen des Rechenlernens an, an dem das Kind steht. Erst wenn das Kind die grundlegenden Rechenschritte erfasst hat, sind Übungen zur Automatisierung sinnvoll.
Die hier erörterten Lernwege stellen damit vor allem Anforderungen an die visuelle Wahrnehmungsverarbeitung, das visuelle Vorstellungsvermögen sowie die sprachliche Kompetenz.
Die beste Prognose für ein Überwinden der Schwäche ist die gute Zusammenarbeit zwischen Schule, Kind, Elternhaus und Therapeut. Das bedeutet, dass das Kind dazu befähigt wird, dem normalen Unterricht in der Schule zu folgen und dass sich neues Wissen auf einen festen Grundstock aufbauen kann.Kinder, die im Schonklima einer Therapie erstmals Erfolge haben, verlieren allmählich auch ihre Hemmungen und Ängste vor diesem Schulfach. Positive Lernerfahrungen führen dazu, dass Kinder sich mit dem Fach wieder beschäftigen möchten. Wenn das Kind sein Selbstbewusstsein zurückgewinnt, ist dies oft auch schon als Erfolg zu werten. Rechenschwache Kinder, die durch eine Förderung in ihren Grundlagen gefestigt wurden, können in höheren Klassen durchaus gute Mathematiker werden.
Um eine Therapie erfolgreich gestalten zu können, ist die Mitarbeit im Elternhaus von großer Bedeutung. Eltern wollen ja gerne das Kind unterstützen, wissen jedoch nicht, wie sie dies am besten machen sollen. Zunächst ist eine umfassende Beratung notwendig, die Eltern über das Störungsbild informiert. Damit verschwinden auch die Schuldzuweisungen, denn niemand ist für die schulischen Misserfolge des Kindes verantwortlich zu machen. Durch Testungen erfahren Eltern und Kinder auch, dass sie weder zu dumm oder zu faul zum Rechnen sind, und diese Erkenntnis entlastet alle Beteiligten.
Ob es sinnvoll ist, dass Eltern ihren Kindern beim Rechnen „helfen“ sollen, hängt von den individuellen Umständen ab. Das elterliche Üben setzt ein hohes Maß an Fachwissen über didaktische Konzepte in der Mathematik und über das spezielle Störungsbild voraus. Vielfach ist es sehr viel besser, Eltern eine Vielzahl von Spiel- und Übungsmöglichkeiten an die Hand zu geben, mit denen visuelle und sprachliche Bereiche „trainiert“ werden können.
Bewegungsspiele fördern beispielsweise die Körperkoordination, den Gleichgewichtssinn sowie die Grob- und Feinmotorik. Labyrinth- und Memoryspiele sowie Spiele wie „Ich packe in meinen Koffer... “ schulen die Raumvorstellung, die visuelle Wahrnehmung und die Konzentration.
Jede Lernstörung verläuft nach einem bestimmten Muster, was in dem Standardwerk von Betz/Breuninger „Teufelskreis Lernstörung“ sehr anschaulich beschrieben wurde. Ständige Misserfolge im Rechnen führen häufig dazu, dass Kinder irgendwann das Lernen verweigern und sich im ungünstigsten Fall in allen Fächern schlechte Noten zeigen. Hier gilt es, den Teufelskreis an einer Stelle zu durchbrechen und dem Kind wieder Mut zu machen. Durch Elterngespräche, Austausch mit der Lehrkraft des Kindes sowie durch die Vermittlung von kleinen „Erfolgen“ innerhalb der Therapie steigt die Motivation zum Lernen wieder an und dies führt häufig zu verbesserten Noten in allen Fächern.
Literaturempfehlungen bei Dyskalkulie
- Lorenz, J.H. Lernschwache Rechner fördern, Cornelsen-Verlag, Berlin 2003
- Grissemann, H. Dyskalkulietherapie heute, Verlag Hans Huber, Bern 1996
- Hemm Heinrich. Das große Rechenspiel, Kösel Verlag 2002
- Wejda, Simon. Rechenschwäche - der Kampf mit den Zahlen, Cornelsen-Verlag, Berlin 2